Ist ein Defizit in der Leistungsbilanz schlecht und ein Überschuss gut?

Im Kontext der Debatte um die Ursachen und Folgen der Schuldenkrise kam die Rede immer wieder auf die Löcher in den Leistungsbilanzen der überschuldeten südeuropäischen Länder und den Überschüssen, die „verantwortungsvolle“ Länder wie Deutschland oder Finnland erwirtschaften. Daraus den Schluss zu ziehen, eine positive Leistungsbilanz sei gut und eine negative schlecht, ist allerdings eine gefährliche Vereinfachung der Angelegenheit.

Was sagt überhaupt die Leistungsbilanz aus? Ganz einfach: Sie zeigt das Verhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen einer Volkswirtschaft auf. Gibt ein Land mehr aus, als es einnimmt, muss es den Differenzbetrag aus dem Ausland beschaffen – und hat damit eine negative Leistungsbilanz. Verhält es sich umgekehrt, dann sprechen wir von einer positiven Leistungsbilanz, und das Land führt seinen Überschuss ins Ausland ab. (Eine Anmerkung am Rande: aufgrund der volkswirtschaftlichen Mechanik ist es nicht möglich, den Überschussbetrag im Inland zu behalten; über Umwege findet er immer einen Weg ins Ausland. An dieser Stelle würde es aber zu weit führen, die Gründe dafür zu erklären – bei Bedarf kann das aber nachgeholt werden…)

Aus der obigen Definition lässt sich bereits herauslesen, dass die moralischen Kategorien gut und schlecht im Zusammenhang mit der Leistungsbilanz nicht angebracht sind. Für ein entwickeltes Land mag es sinnvoll sein, jenes Vermögen, das im Inland nicht benötigt wird, im Ausland gewinnbringend anzulegen. Länder mit Entwicklungsbedarf wiederum können mit Hilfe ausländischen Kapitals rascher eine moderne Infrastruktur aufbauen, als sie dazu aus eigener Kraft imstande wären – eine Win-Win-Situation sozusagen.

Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang Deutschland. Heute hat größte Volkswirtschaft Europas einen Leistungsbilanzüberschuss, doch in den 1990er Jahren wies es kontinuierlich einen Fehlbetrag auf. Einer der Hauptgründe dafür war die Tatsache, dass die Wiedervereinigung (und die damit verbundene Aufbauarbeit in der ehemaligen DDR) wahnsinnig viel Geld gekostet hat – und man daher Kapital aus dem Ausland benötigte. Zu dieser Zeit hatte das heute viel gescholtene Frankreich übrigens eine positive Leistungsbilanz.

Heißt es also, dass negative Leistungsbilanzen nichts Schlimmes sind? So einfach ist die Angelegenheit dann aber doch nicht. Denn wenn ein an sich hochentwickeltes Land kontinuierlich Defizite aufweist, könnte dies erstens bedeuten, dass seine Einwohner einen Lebensstandard pflegen, den sie sich eigentlich nicht leisten können. Eine andere Erklärung wäre, dass es keine Waren und Dienstleistungen produziert, die international gefragt wären. Beides sind problematische Erklärungen. Ein aktuelles Beispiel ist Spanien, das zwar über eine muskulöse Exportindustrie verfügt, das aber viel ausländisches Kapital für den Bau sinnloser Immobilien verschwendet hat, was nun (über den Umweg der spanischen Banken) zu einem Problem geworden ist.

Noch eine Anmerkung zum Schluss. Die Logik würde gebieten, dass sich global betrachtet alle Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite ausgleichen. Tun sie aber nicht – was aber nicht bedeutet, dass irgendwer insgeheim Handel mit dem Mars betreibt, sondern dass die Handelsstatistiken Unschärfen haben und manche Ein- und Ausfuhren doppelt verbucht werden.

About Michael Laczynski

Michael Laczynski wurde 1973 in Warschau geboren und kam im zarten Alter von elf Jahren nach Österreich. Er war langjähriger Leiter des Auslandsressorts der Tageszeitung "WirtschaftsBlatt", ist Mitbegründer des Kulturmagazins TOURISTEN und schreibt jetzt aus Brüssel für "Die Presse". ml@homo-oeconomicus.com
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