Sind wir arm?

Die Frage ist vernünftiger, als es zunächst den Anschein haben könnte. Außerdem kommt sie zur rechten Zeit, denn vergangene Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) eine groß angelegte Studie präsentiert, in der sie zum ersten Mal die Verteilung der privaten Vermögen in der Eurozone untersucht hat. Und die Ergebnisse der Studie dürften uns noch länger beschäftigen – und für viel politischen Wirbel sorgen.

Der brisante Hauptbefund der EZB: Deutsche und österreichische Haushalte sind ärmer als gemeinhin angenommen, während die Vermögen in den südeuropäischen Krisenländern überraschend groß sind. Mit einem Medianwert von 51.400 Euro finden sich die Deutschen am unteren Ende des Rankings, Österreich ist mit 76.400 Euro an der viertletzten Stelle. Zum Vergleich: In Zypern sind es 266.900 Euro, in Spanien 182.700 Euro, in Italien 173.500 Euro, in Frankreich 115.800 Euro – und selbst in Griechenland, dem Armenhaus der Eurozone, beträgt der Median immer noch 101.900 Euro. Ist die Welt verkehrt? Müssen die vergleichsweise armen Deutschen den reichen Griechen und Zyprioten aus der Patsche helfen?

Ganz so ist es natürlich nicht, und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst einmal sind die Haushalte in Südeuropa im Schnitt größer als im Norden – und mehr Köpfe bedeutet zwangsläufig mehr Einkünfte und Vermögen. Während ein deutscher Haushalt im Schnitt aus 2,04 Personen besteht, sind es in Spanien 2,68, in Italien 2,53 und in Griechenland 2,64 Personen. Auch die österreichischen Haushalte sind mit 2,13 Köpfen vergleichsweise klein.

Ein weiterer Grund für die Diskrepanz: Österreich und Deutschland sind die einzigen Länder der Eurozone, in denen weniger als die Hälfte der Haushalte Immobilien besitzt. Und die eigenen vier Wände machen in der Vermögensstatistik den mit Abstand wichtigsten Posten aus. Hinzu kommt, dass die spanischen Vermögen im Jahr 2008, also am Höhepunkt der Immobilienblase vermessen wurden (das statistische Material der Studie stammt aus den Jahren 2008 bis 2010). Das bedeutet also, dass sich der Wert der spanischen Häuser und Wohnungen seither deutlich verringert hat.

Das letzte Argument gegen die These zielt auf die Sozialsysteme und lautet vereinfacht formuliert folgendermaßen: Deutsche und Österreicher mögen zwar auf dem Papier arm aussehen, doch ihre Vermögen stecken in den staatlichen Pensions- und Krankenkassen, die von der Statistik nicht erfasst wurden. Außerdem haben sie eine niedrige Arbeitslosigkeit, vergleichsweise hohe Durchschnittslöhne, gute Bildungssysteme und eine Infrastruktur von Weltrang.

Also sind wir doch nicht arm, sondern einfach nur anders reich? Nicht so schnell – die Gegenargumente mögen zwar durchaus ihre Berechtigung haben, doch die Skeptiker der Studie machen es sich viel zu einfach. Beispielsweise indem sie Äpfel mit Birnen vergleichen. Das Ergebnis der EZB-Untersuchung hat Substanz. Warum, das erkläre ich im nächsten Beitrag…

About Michael Laczynski

Michael Laczynski wurde 1973 in Warschau geboren und kam im zarten Alter von elf Jahren nach Österreich. Er war langjähriger Leiter des Auslandsressorts der Tageszeitung "WirtschaftsBlatt", ist Mitbegründer des Kulturmagazins TOURISTEN und schreibt jetzt aus Brüssel für "Die Presse". ml@homo-oeconomicus.com
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